Was ich denn vorhabe zu studieren, jetzt nachdem das Abitur auf dem Zweiten Bildungsweg geschafft wäre, fragt mich höflich die Sachbearbeiterin in der Vermittlungsabteilung, Zimmer 1038. Ihr Büro im Jobcenter teilt sie mit einem deutlich jüngeren Mann, dessen Blick vor dem Bildschirm seines Monitors erstarrt, als ich ihr darauf antworte: „Ja, also entweder Philosophie und Kulturwissenschaften. Oder Geschichtswissenschaften, vielleicht auch Soziologie. Ich habe mich noch nicht entschieden, aber …“ Weiter komme ich nicht. Sie unterbricht meine ehrliche Antwort mit einer wahrscheinlich ebenso ehrlichen Bemerkung: „Philosophie? Na, das sollten sie sich aber nochmal gründlich überlegen.“


Dabei bleibt es nicht. Wortbrocken wie „… Philosophie … also nein, nein, wirklich, das geht nicht … Philosophie … also nein, … Philosophie? … wirklich? … nein, nein ...“ werden mir unentwegt entgegen geschleudert. Jedes Mal, wenn sie beim Wort Philosophie ist, atmet sie schwer aus, hebt ihre Stimme und sieht fragend Büropalme und Schreibtischkomplizen an.

Während die Frau im Arbeitsamt mir zu erklären versucht, warum das alles nichts für mich sei (es gebe kein Markt für Kulturwissenschaftler und erst recht nicht für Philosophen), frage ich mich, ob sie grundsätzlich etwas gegen Philosophen hat oder Jahr für Jahr Heerscharen unvermittelbarer Philosophen vor ihrem Büro herumlungern? Musste sie zu viele haarige Kulturwissenschaftler zu prekärer Arbeit zwingen und finden Philosophen nur noch bei Amazon eine Anstellung? Und was werde ich mir wohl in ein paar Jahren alles anhören müssen, wenn ich mich in die Masse der arbeitssuchenden Akademiker einreihe und erneut vor dem Schreibtisch meiner Marktanalystin lande?

Unter dem Schwall ihrer Marktanalyse gelange ich zu dem Schluss, dass es sehr, sehr unwahrscheinlich ist. Dieselbe Sachbearbeiterin bei der hohen Anzahl von Büros? Das ist nun wirklich sehr unwahrscheinlich.
Doch würde ich ein arbeitsloser Philosoph werden?

Ich erinnere mich an meine letzte Lektüre. In einer Einführung zum Philosophiestudium steht, dass es weniger als ein Prozent der Studenten zum „Philosophen“ schafft und sein Geld als solcher verdient. Das Kriterium dafür ist die herausragende Bedeutung der eigenen Schriften im Fach. Da meine Wenigkeit sicherlich nicht zur Auslese zählen wird, werde ich also nach dem abgeschlossenen Studium weder ein „Philosoph“ sein, noch als solcher Geld anhäufen. Deshalb hat meine Sachbearbeiterin wahrscheinlich auch nichts grundsätzliches gegen Philosophen, nur halt gegen solche, die welche werden wollen. Vielleicht liest sie sogar ab und zu philosophisches Zeugs. Wenn mich jedenfalls nach dem Studium kein Arbeitgeber einstellen möchte, dann nicht, weil ich ein Philosoph bin, sondern weil sie mich für einen halten.

Ihr Monolog in einem besorgt mütterlichen, manchmal in einem streng lehrerhaften Ton über „sinnlose“ und „zweckvolle“ Studiengänge scheint nicht enden zu wollen. „Sie könnten doch wenigstens auf Lehramt studieren?“ Genervt schließe ich meine Augen, senke meinen Kopf und überlege, wie ich irgendwie noch einen sinnvollen Dialog anstoßen könnte, um ihr mitzuteilen, dass ich kein richtiger Philosoph werden will, sondern das Studium primär meiner Persönlichkeitsentwicklung und dem Nachgang meiner Interessen dienen soll.
Es müsste doch Hinweise auf ihrem Arbeitsplatz geben, die ihre Interessen verraten könnten, um eine Brücke zu bauen, einen kleinen gemeinsamen Nenner zu finden – das Buch für den Arbeitsweg oder die Mittagspause, eine Zeitschrift, eine Notiz, ein Maskottchen auf dem Schreibtisch oder sonstige verräterische kulturelle Artefakte? Irgendetwas, das uns beide noch zusammenführen könnte.
Vergeblich, nichts außer einem chinesischen Wandkalender und der einsamen Büropalme. Ideenlos gebe ich auf und versuche für den Rest der Unterhaltung, ihr ein Gefühl von Aufmerksamkeit zu geben.

Ich glaube, es tut ihr gut.

In ihrer institutionellen Rolle ist es natürlich weder überraschend noch unangebracht, dass sie Ratschläge zur optimalen Verwertbarkeit gibt und eine erneute Begegnung vermeiden möchte. Interessant finde ich jedoch, dass sie nicht müde wird zu betonen, wie sie zu ihrem eigenen Job steht. Er fülle sie keineswegs aus und sei auch nicht das, was sie sich in jungen Jahren erhofft hätte. Dabei blickt sie zu ihrem jungen Kollegen am Schreibtisch, der nickend seiner Arbeit nachgeht. Man könne sich nicht alles im Leben aussuchen, erst recht nicht den Arbeitsplatz, und wie ich denn überhaupt auf die Idee kommen würde, Philosophie zu studieren, fragt sie zum wiederholten Male, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten, schließlich sei ich doch schon über Dreißig und müsse wissen, dass damit später kein Geld zu verdienen sei.

Welche Ausbildung oder welchen Studienabschluss sie wohl besitzt, überlege ich, und ob ihr Job die logische Folge davon ist, oder warum sie einer Tätigkeit nachgehen muss, die sie nicht erfüllt.

Wie auch immer ihr Bildungsweg war, ihre Haltung fügt sich nahtlos in eine Reihe von Erfahrungen, die ich in meinem gelernten Beruf, während der Zeit des Zweiten Bildungsweges und im Familien- und Freundeskreises gemacht habe: Institutionalisierte Bildung (Schule, Ausbildung, Studium) soll primär dem Zweck bestmöglicher Arbeitsmarktchancen dienen. Zwar sei die interessensorientierte berufliche Erfüllung erstrebenswert, doch wenn der Traumberuf nicht in die Verwertungslogik des Marktes passt, müsse man sich eben anpassen, und zwar soweit, bis die Gesellschaft nicht mehr für einen aufkommt. Für Selbstverwirklichung sei, wenn der Markt es nicht zufällig zulässt, nicht der Staat zuständig, sondern sie müsse in der Freizeit gesucht werden – erst die Arbeit, dann das (Bildungs-)Vergnügen.
Die Diskrepanz zwischen meinem Verständnis von Bildung und der dominierenden Auffassung lässt sich vielleicht auf den Bildungsbegriff selbst zurückführen.

Bildung ist ein Gegenstand erzieherischer und schulischer Theorie und Praxis, politischer Kampfbegriff, ästhetisches Ideal, kulturelles Selbstverständnis, soziales Unterscheidungsmerkmal und vieles, vieles mehr. Je nach Zeit und Kontext wurde der Bildungsbegriff von den ersten Konstruktionen im späten 18. Jahrhundert über die Rezeption der Frankfurter Schule bis in die gegenwärtigen Debatten unterschiedlich bestimmt. Seine Beliebigkeit ist zugleich sein Potenzial. Bildung verspricht Erlösung, trägt Hoffnung und ist die vermutlich häufigste, wenn auch meist unzureichende, Antwort auf gesellschaftliche Missstände. Der allgemein anerkannten hohen Bedeutung entspricht keine allgemein anerkannte Definition.

Trotz der zugesprochenen hohen Bedeutung und der historisch gewachsenen Möglichkeit, diese unterschiedlich zu begründen, überwiegt eine Auffassung von Bildung bei der Wahl des Studiengangs. Die Dominanz einer möglichen Bedeutung ist nicht das Ergebnis eines argumentativen Dialoges. Ich vermute, dass die wachsende Angst, unter die Armutsgrenze zu fallen, oder die Hoffnung, diese zu überwinden, sowie solche Narrative, die maßgeblich die Wertentscheidung für einen Studiengang beeinflussen, diese Dominanz erklären könnten. Galt lange Zeit ein Studium an sich als Garant für den sozialen Aufstieg der Arbeiterfamilien und der Beibehaltung des Status Quo in Akademikerfamilien, ist es heute die „richtige“ Entscheidung für einen vermeintlich oder tatsächlich „zukunftssicheren“ Studiengang.
Wenn die eigenen Interessen nicht zu 100 % mit den „zukunftssicheren“ Studiengängen übereinstimmt, ist die Dominanz eines einzigen Verständnisses von Bildung keine gute Grundlage für eine Wahl.

Es gibt sicherlich gute Gründe, sich für einen Studiengang zu entscheiden, der später ökonomische Vorteile verspricht, auch wenn andere Studiengänge mehr dem eigenen Interesse entsprechen. Nur scheinen mir die Gründe, die für eine interessensorientierte Studienwahl sprechen, bedeutend weniger ins Gewicht zu fallen. Institutionalisierte Bildung ist eben auch Persönlichkeitsbildung und die Chance, Fähigkeiten auf Grundlage eigener Interessen professionell weiter zu entwickeln.

Diese Chance werde ich nutzen, sobald ich sie bekomme, nehme ich mir vor, als die Sachbearbeiterin mir einen schönen Tag wünscht. Mit den Fähigkeiten, die ich erhoffe zu erwerben, gelingt mir vielleicht auch eine Analyse zu meiner Überlegung, was ein mehrheitliches Bildungsverständnis konstituiert und inwieweit dies eine Studienwahl beeinflusst. Wenn das mal kein guter Grund für meine Studienwahl ist …


Artikelbild: "La scuola di Atene" von Raffaello Sanzio (1509). Originaler Hochlader war User:Jic, neue Version User:FranksValli. - File:Sanzio 01.jpg. Lizenziert unter Public domain über Wikimedia Commons. Ausschnitt aus dem Original.