Das Gemeinsame

Was ist uns allen gemeinsam? Was ist das Wesen des Menschen?
Menschen töten Menschen. Sie diskriminieren, unterdrücken, erleiden unerträgliche Qual. Und sie lieben, spenden Trost, sind fürsorglich, handeln emotional und rational. Alles liege in der Natur des Menschen, heißt es, einem uns allen Menschen gemeinsamen Wesen. Wir haben die Fähigkeit zum Guten und zum Bösen. So der Standpunkt in der Moderne, nachdem Kant beide Extreme wieder zusammenführte: Der Mensch sei von Natur aus entweder böse (Hobbes) oder gut (Rousseau). Dabei bleibt das Wesen des Menschen nicht unbestimmt, da erst seine ihm von Natur aus angelegte Vernunftbegabung ihn das Richtige und Falsche unterscheiden lässt. Ob die Vernunft, das Gute oder Böse uns nun allen gemein ist oder nicht, zunächst ist zu ergründen, warum wir überhaupt ein Wesen zu bestimmen versuchen.

Je nach Menschenbild in den Deutungsangeboten über die Welt (Wissenschaft, Religion, Ideologie) wird eine Menschennatur vorgegeben. Ob homo oeconomicus oder empaticus, ob von gottgegebener Ordnung oder aus evolutionärem Zufall abgeleitet, sie alle sind Modelle - erklärend, rechtfertigend und sinnstiftend. Rache, Eifersucht und Habgier, Liebe, Trost und Solidarität sind Begriffe, die unsere Zustände, unser Handeln sprachlich fassen. In den Deutungsangeboten der Welt werden sie funktionalisiert, um ihr, um uns, einen Sinn zu geben, um unser Wesen zu bestimmen.

Die Bestimmtheit des Wesens wird in den Deutungsangeboten, die Orientierung zum richtigen Leben geben, zur Grundlage des Normativen: Vom Sein (Bestimmtheit des Wesens) wird auf das, wie etwas sein soll (das Normative) gefolgert. So wurde und wird aus dem Unterschied zwischen Frau und Mann auf unterschiedliche Rechte und Pflichten geschlossen und diese werden dann, weil es eben diesen Unterschied gibt, als moralisch gut bewertet: Die Natur der Frau ist (…), deshalb ist es gut, dass (…). Schon immer (…), deshalb ist es gut, dass (…). Es gibt den biologischen Unterschied (…), deshalb ist es gut, dass (…).

Wenn aus der Tatsache, dass etwas schon immer so oder so gewesen ist, gefolgert wird, dass dies auch weiterhin erstrebenswert sei, oder wenn die Faktizitäten der Natur oder die in sie hineingelegten Wertvorstellungen das Normative begründen, dann wird dies als naturalistischer Fehlschluss bezeichnet. Dieser kausal-logische Fehler, der manch Konservativen vorgeworfen werden kann, bleibt auch der politischen Linken nicht erspart. Der Standpunkt, dass nicht sein könne, was nicht sein dürfe, ist die andere Seite derselben Medaille. Wenn das Normative kausal nicht auf das Wesen rückführbar ist, das Sein nicht auf das Normative, in welcher Beziehung können sie verstanden werden?

Nehmen wir zwei Begriffe, die menschliche Eigenschaften seien und die als wünschenswert gelten können: solidarisch und egoistisch. Wenn festgestellt wird, sie seien Eigenschaften des vergangenen und gegenwärtigen Menschen und davon unabhängig weiter festgestellt wird, dass solidarisches und egoistisches Handeln erstrebenswert sei, dann bleiben die Aussagen im Bereich der objektiven Wahrscheinlichkeiten. Denn unter der Voraussetzung unseres endlichen Wissens können wir zu beidem, dem, was ist, und dem, wie etwas sein soll, nur Wahrscheinlichkeitsaussagen machen: Sehr wahrscheinlich, soweit wir eben wissen, sind wir egoistisch, sehr wahrscheinlich sind wir solidarisch. Sehr wahrscheinlich ist es erstrebenswert, egoistisch zu sein, sehr wahrscheinlich ist es erstrebenswert, solidarisch zu sein. Bei beidem bleibt, ohne in den Relativismus zu fallen, eine Unsicherheit.

Wenn unser Wissen unendlich wäre, die Aussagen in beidem absolut, wären wir veranlasst sie zu verknüpfen? Wenn wir die Fragen des richtigen Denkens, des richtigen Handelns, des richtigen Lebens letztlich allein entscheiden müssen, wie sollten wir da nicht Angst haben?

Auch wenn der Fehlschluss vermieden wird, suchen wir abseits des logischen Denkens Begründungen und außerweltliche Instanzen. Es sind die Deutungsangebote über die Welt, die Antworten mit dem Anspruch absoluter Wahrheit darauf geben. Erst die Angst, die immer bleibt, potenziert das Streben nach Legitimation. Wenn Deutungsangebote Menschenbilder enthalten, muss das Unsichere sicher erscheinen, da nur der geordnete, von Angst befreite Mensch das Chaos beseitigt.

Die Existenz

Es gibt keine Natur des Menschen, kein vorbestimmtes Wesen. Nach Jean Paul Sartre geht die Existenz dem Wesen voraus. Bevor ein Mensch das eine oder andere denkt, bevor er handelt, bevor er dies oder das ist, ist er zunächst ein Mensch ohne Welt. Die Welt wird erst durch ihn erschaffen und nur dort gibt es ein Wesen. Jede Sekunde, jeden Tag, Jahr für Jahr erschaffen wir uns, das Wesen, das was wir sein werden, wenn wir sterben. Es ist der Gedanke und die Tat, die uns von allem unterscheidet auf dieser Erde. Jedes Tier, jede Pflanze und jedes Ding unterliegt seinem vorbestimmten Wesen, der Mensch schafft sein eigenes.

Mit jedem Gedanken, mit jeder Tat schafft der Mensch sich selbst.

Deshalb ist die relevante Frage nicht die, wer wir sind, was unser Wesen ist, sondern wer wir sein wollen in den Möglichkeiten unserer Existenz. Ihre Bedingungen sind das Können ohne Selbsttäuschung, die Chancen und das Glück. Wenn wir Chancen bekommen und uns nicht im Können überschätzen und Glück haben, können wir uns verwirklichen, können wir sein, was wir sein wollen. Alle drei Bedingungen müssen erfüllt sein, um in diesem Sinne frei zu sein. Innerhalb dieser Freiheit, deren Grenzen sich fortwährend verschieben – mal haben wir mehr Glück, mal weniger, mal haben wir bessere Chancen, mal schlechtere, mal überschätzen wir unsere Fähigkeiten, mal nicht –, verändern wir unser Wesen. Somit ist es nicht starr, seine Definition bleibt für den Einzelnen bis zum Tod und für die Menschheit bis zu ihrem Ende unbestimmt.

Während der Mensch sich unter den Bedingungen der Existenz schafft, beeinflusst er, selbst wenn er es nicht will, zugleich damit, ausgenommen das Glück, die Bedingungen seiner Existenz. Umso mehr er erfolgreich für Chancengleichheit kämpft, umso mehr schränkt er diese als negative Bedingung ein. Umso mehr er erfolgreich an der Fähigkeit, das eigene Können einzuschätzen, arbeitet, umso mehr schränkt er diese als negative Bedingung ein. Was bleibt, ist das Glück oder Unglück, welches eine nicht beeinflussbare Konstante ist, und die Unsicherheit.

Befreien wir die Fragen des richtigen Denkens, des richtigen Handelns, des richtigen Lebens von einer angeblich festgelegten Natur des Menschen und vom ethischen Relativismus, dann liegt es in unserer Verantwortung, in welcher Gesellschaft wir Leben wollen, wer wir sein werden, egoistisch oder solidarisch. Indem wir uns selbst schaffen, schaffen wir alle zusammen zugleich unsere Welt. Wir verändern sie mit jedem Gedanken, mit jeder Tat. Das ist es, was uns gemeinsam ist. „Schaffen und schaffend sich schaffen und nichts anderes sein als das, zu dem man sich geschaffen hat.“ (Jean Paul Sartre)

Artikelbild: Nebuchadnezzar, von William Blake, gemeinfrei, Ausschnitt aus dem Original.