Zumindest in demokratischen Rechtsstaaten kann man aus ihren Rechtsordnungen Rückschlüsse auf das gesellschaftliche Selbstbild ziehen. Unser neuer Autor unterzieht das deutsche Zivilrecht einer kurzen Betrachtung in Hinblick auf das in ihm ruhende Gesellschaftsbild.


Ich wurde gefragt, ob ich nicht Lust hätte, einen Text zum Thema „Miteinander“ zu verfassen. Das stellte mich vor die Frage, was ich zu diesem Thema beitragen kann, was hoffentlich für den einen oder anderen einen kleinen Erkenntnisgewinn beinhalten könnte.
Da meine Art, mich der Realität zu nähern stets die ist, völlig induktiv von mir selbst auszugehen und von mir, meinen Empfindungen, meinen Einschätzungen und meinen Erfahrungen aus auf alles andere zu extrapolieren (was mir die einzig sinnvolle Art erscheint, auch wenn Mitautor Noruk mich dafür stets auszulachen pflegt), möchte ich euch, liebe Leser, hier von meiner persönlichen großen Entdeckung der letzten Monate berichten.

Ich studiere augenblicklich im ersten Semester Rechtswissenschaft und habe mich deshalb in den letzten Monaten sehr intensiv mit unserem deutschen Rechtssystem auseinandergesetzt. Dabei habe ich so manche Entdeckungen gemacht, die ich vorher nicht oder nicht in der Form erwartet hätte. Diese Entdeckungen möchte ich nun mit euch teilen.
Und falls ich in Einzelheiten Unsinn erzähle, möge der kundige Jurist milde amüsiert das Köpfchen schütteln und mir vergeben. Ich meine jedenfalls, die wesentlichen Sachen richtig wiederzugeben.

Vorweg sei noch gesagt, dass der Kernbereich des deutschen Jurastudiums aus den Fächern Zivilrecht, Strafrecht und Öffentliches Recht besteht.
Ich werde mich in diesem Text nur um das Zivilrecht kümmern. Auch wenn es zu den anderen beiden Gebieten auch vieles interessantes zu sagen gäbe. Aber das Jahrtausend ist ja noch jung.

Zivilrecht – Ausgleich und Schutzwürdigkeit

Was ist Zivilrecht? Grob gesagt umfasst es alle Rechtsvorgänge zwischen Bürgern. Auch die, bei denen kein Jurist beteiligt ist.

Brötchenkauf? Privatrechtliches Rechtsgeschäft. Mietvertragsunterzeichnung? Privatrechtliches Rechtsgeschäft. Schwarzfahren? Privatrechtliches Rechtsgeschäft – außerdem noch strafrechtlich relevant, aber das gehört hier nicht her.

Unser deutsches Zivilrecht geht von zwei Annahmen aus: Menschen sind im Stande, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen (Privatautonomie) und sie sind im Stande, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln (Vertragsfreiheit).
Das Gesellschaftsmodell, von dem unser Rechtssystem ausgeht, ist also das des mündigen Bürgers.

So weit, so vorhersehbar.

Aus diesen Grundsätzen, verbunden mit dem zentralen Satz des Zivilrechts überhaupt, “pacta sunt servanda“(Verträge müssen eingehalten werden) folgt die Haltung, dass der Staat sich nicht in Interaktionen zwischen Bürgern einzumischen hat. Wer mündig ist, der kann machen, was er will.
Solange es nicht strafrechtlich relevant wird natürlich.
Aber damit befinden wir uns dann in einem anderen Rechtsgebiet, das tut an der Stelle nichts zur Sache.
Er kann auch seine Verträge (mündlich oder schriftlich) gestalten, wie er will.

Das war soweit noch relativ folgerichtig.

Der aufmerksame Leser wird nun (hoffentlich) mit gerunzelter Stirn feststellen, dass damit vor allem dem Recht des Stärkeren gedient ist. Wer in der stärkeren Verhandlungsposition ist, kann die Vertragsbedingungen diktieren, der Schwächere hat nur die Wahl, dem Vertrag im Ganzen zuzustimmen oder ihn abzulehnen. Das klingt doch sehr … neoliberal, oder? Stimmt.
Und weil bei uns glücklicherweise nicht Hopfen und Malz verloren ist, hat unser Zivilrecht den einen oder anderen Mechanismus, der es von einem Machtmittel der Eliten zur verbindlichen Kommunikationsgrundlage der gesamten Gesellschaft macht.
Da ist zum einen das „dispositive Recht“, das ich in seiner konzeptionellen Schönheit einfach bemerkenswert finde.
Die Idee hier ist, dass die Vertragsparteien übereinstimmend von den gesetzlichen Regelungen abweichen (sie disponieren) können.
Der Staat schreibt also mit vielen (nicht allen) Normen des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) dem Bürger nicht etwa vor, wie er sich zu verhalten hat, sondern er spannt ein „Sicherheitsnetz“. Die Parteien können sich auf jeden beliebigen Vertragsinhalt einigen. Die dispositiven Regelungen kommen erst ins Spiel, wenn die Parteien vergessen oder darauf verzichten, eine solche Regelung auszuhandeln.
Oder wenn es wirklich, wirklich unanständig wird.

Ist das nicht super?
Das Gesellschaftsbild, welches dahinter steht, ist eben das des freien, selbstverantwortlichen Bürgers, der kein Gesetz und erst Recht keine Juristen braucht, um seine täglichen Angelegenheiten zu regeln. Der aber, falls ihm beim Regeln der eigenen Angelegenheiten ein Fehler unterlaufen sollte, sein Vertrauen (und sein Geld) einem Anwalt entgegenbringen kann, damit dieser für ihn die Sache regelt, ohne dem Vertragsgegner gleich die Beine brechen lassen zu müssen.
Wo wir beim Geld sind: Es gibt bei uns Prozesskostenhilfe. Und feste Anwaltsvergütungen, die sich nach dem Streitwert des Verfahrens richten. Damit gewinnt nicht, wie in anderen Rechtssystemen (ich gucke auf euch, USA), derjenige, der sich den teureren Anwalt leisten kann. Weil alle Anwälte mehr oder weniger das gleiche verlangen. So oder so.
Aber lieber Autor, werdet ihr jetzt sagen, das löst doch noch gar nicht das Problem mit dem Recht des Stärkeren. Weil immer noch das Problem besteht, dass der stärkere die Bedingungen diktiert.

Das stimmt. Aber keine Angst, das Problem wird gelöst. Und zwar über die sogenannte Generalklausel des § 242 BGB (1) :

§ 242 BGB Leistung nach Treu und Glauben
Der Schuldner ist verpflichtet, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben
mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.



„Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte“ bedeutet in der Juristensprache so viel wie: „Sei kein Sackhamster, benimm dich anständig.“ Und die Funktion von Generalklauseln ist, dass sie dem Richter einen weiten Ermessensspielraum eröffnen, was denn jetzt genau dem Anspruch des §242 genügt, was denn also nach Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte geboten ist.

Der Richter kann also im Ernstfall sagen:
“Herr P., ihr Kunde hat ihnen das Geld für 20 Regenwürmer überwiesen, damit sind sie jetzt verpflichtet, ihm die 20 Regenwürmer auszuhändigen.
Und nicht etwa 40 halbe Regenwürmer.
Auch wenn das, wie ihr Anwalt richtig sagt, rechnerisch das selbe ist.
Und nur weil sie als professioneller Wirbellosenhändler im Kaufvertrag „vergessen“ haben, zu erwähnen, dass sie gedenken, die Regenwürmer halbiert auszuliefern, schützt sie das jetzt nicht davor, dem Kläger die 20 vollständigen Tiere auszuhändigen.
Und nein, sie können sich jetzt auch nicht darauf berufen, dass ohne Einigung auf einen genau bezeichneten Kaufgegenstand kein wirksamer Vertrag zu Stande gekommen sei.
Ich meine … wer kauft schon halbe Regenwürmer. Das ist ganz schön bizarr, Herr P.
Also wirklich!“


Und die Grundlage dafür sind zwei Ideen: Erstens, die Generalklausel aus § 242 und zweitens die Frage danach, wer denn eigentlich schutzwürdig ist.
Schutzwürdig ist in der Regel der Schwächere.
Oder derjenige, dessen Position nachvollziehbarer ist.
Herr P. hat sich offenbar auf ziemlich wieselige Art versucht, aus seinem Geschäft herauszuwieseln.
Vielleicht hatte er keine Würmer mehr.
Was weiß ich.
Ich war nicht dabei.
Deswegen findet der Richter an der Stelle, dass jeder normale Mensch bei Vertragsschluss davon ausgeht, ein vollständiges Produkt zu kaufen. Und nicht irgendwelche zusammengesetzten Teilmengen.
Und deshalb ist der Kunde an der Stelle schutzwürdig. Hätte P. bei Vertragsschluss gesagt, dass er nur Hälften anzubieten hat, und der Kunde hätte sich dann auf das Geschäft eingelassen, sähe es anders aus. Dann wäre wahrscheinlich P. schutzwürdig.
Das tolle an der Stelle ist, dass dieser Fall mit gesundem Menschenverstand zu lösen ist. Und sich P. auch nicht auf irgendwelche Winkeladvokatie zurückziehen kann.
Es gewinnt also auch wieder nicht (unbedingt) der mit dem besseren Anwalt, sondern der, dessen Interesse schutzwürdiger ist.
Und die dahinter stehende Idee ist nicht etwa, dass P. bestraft werden muss, sondern nur, dass er sich nicht wie ein völliger Kaktusreiter aufführen soll.
Und dass sein Kontrahent eben schutzwürdiger ist und ihm aus dem Fehler seines Gegners kein Nachteil (wie etwa die Nichtigkeit des Geschäfts) erwachsen soll.
Es geht also um Ausgleich. Nicht um Strafe. Denn dafür gibt es ja das Strafrecht. Aber das gehört nicht hier her.

Und das ist doch ein schöner Gedanke, um diesen Artikel zu beschließen:
Die deutsche Gesellschaft, vertreten durch ihr Zivilrecht, ist eine Gemeinschaft von freien und gleichberechtigten Bürgern, die im Stande sind, sich anständig zueinander zu verhalten. Und wenn sich zeigt, dass Einzelne nicht anständig oder nicht gleichberechtigt sind, gibt es eine unparteiische Instanz, die sich alle Mühe gibt, genau dies herauszufinden und für einen Ausgleich – nicht für Strafe – zu sorgen.

Und unser Rechtssystem ist (von vereinzelten Arschlochereien einzelner Beteiligter abgesehen) auch ziemlich gut im Stande, das zu leisten.

Artikelbild: Earth Worm, von Hankphone, lizensiert unter CC BY 3.0, Ausschnitt aus dem Original.