„Warum?“
Er blickte mich aus seinen grünen Augen heraus an, nichtssagend war sein Blick.
Mir fiel auf, dass das Grün seiner Augen einen merkwürdigen Ton hatte. Es war, so sinnierte ich, so grün wie eine sonnige Lichtung an einem Sommermorgen.



Wirklich eigenartig, unnatürlich möchte man meinen, aber er war ja auch kein Mensch. Oder aber ich selbst hatte den Moment der Evolution verpasst, in dem den Menschen längliche und spitz zulaufende Ohren gewachsen waren. In einem solchen Falle wäre ich das merkwürdige Wesen von uns Zweien.
Nach einer Weile des Schweigens, in welcher er mich mit diesem nichtssagenden Blick beäugt hatte, schien er mir antworten zu wollen.
„Ihr habt mich doch ebenfalls errettet, meine Dame“, sagte er.
Jedenfalls, hatte er zwar recht, aber immerhin war er nicht irgendwer, er war ein gesuchter Krimineller! Niemand also, dem man so ohne weiteres Vertrauen schenken würde.
„Du bist ein Verbrecher, sollte ich einem wie dir da nicht völlig egal sein?“, fragte ich ihn also.
Nun blickte er mich argwöhnisch an.
„Erst einmal ist Eure Art, Euch zu verständigen, immer noch äußerst unschmeichelhaft und um es Euch verständlich zu machen, meine Dame, ich bin ein ehrenhafter Dieb!“, sagte er entrüstet.
Ungläubig beäugte ich ihn, ich hatte ihn gerettet, das sollte als Nettigkeit genügen. Auch, wenn er kein Mensch war, konnte ich dieses Misstrauen anderen gegenüber unmöglich so einfach ablegen. Ich meine, was wusste ich schon über ihn, außer, dass er ein Krimineller war? Was bei Weitem keine sehr vertrauenswürdige Eigenschaft war.
Er bemerkte mein Misstrauen.
„Wollt Ihr mir etwa weismachen, dass Euch ein Ritter als Retter lieber gewesen wäre? Der gute Derion vielleicht?“
Dieser durchgeknallte Verschnitt von einem Ritter hatte versucht mich umzubringen, also war „Nein“ meine Antwort auf diese beabsichtigt blöde Frage. Der Kerl schaffte es doch immer wieder, mich auf die Palme zu bringen!
Da will man nett sein, macht sich den gesamten Weg von der Stadt auf in diesen blöden Wald, nur um nach diesem Idioten von einem Elfen zu sehen, dann greift einen ein Irrer an, zusätzlich sitzt man hier fest, und das ist dann der Dank, den man dafür erntet. Na toll, schlimmer kann es echt nicht mehr kommen!

Leider konnte es dies doch, denn die Frage, die er danach stellte, war: „Warum seid Ihr überhaupt erst hierher zurückgekehrt?“
Wenn ich ihm gesagt hätte, dass ich nur sehen wollte, ob er sicher entkommen war, dann wäre er sicher wieder in lautstarkes Lachen ausgebrochen, nach dem, was mir gerade beinahe geschehen war. Da mein Stolz das aber nicht zuließ, entschloss ich mich für den Teil der Wahrheit, der mich nicht lächerlich machen würde.
„Weil ich hier festsitze und nicht weiß, wie ich hier wieder wegkomme“, antwortete ich ihm also.
Er runzelte die Stirn.
„Ihr habt euch also verirrt?“, fragte er mich.
Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte keine Ahnung wie ich ihm erklären konnte, dass ich aus einer anderen Welt hierherkam.
„Von wo seid Ihr gekommen?“, fragte er mich nun.
Anscheinend war er trotz meiner Verneinung der festen Überzeugung, ich hätte mich nur verirrt und er müsste mir nur den Weg zeigen, dann wäre alles geregelt. Wenn nur wirklich alles so einfach wäre, dann säße ich dort wohl auch nicht fest. Ich gab mich vorerst geschlagen und zeigte in die Richtung, in der meiner Meinung nach die Bäume gestanden haben mussten, sicher war ich mir nach der ganzen Aufregung nicht mehr so genau gewesen.
Jetzt blickte er mich ungläubig an.
Was sollte das? Hatte ich irgendwas Falsches gesagt? Ich hatte doch nicht mal einen Ton von mir gegeben!
„Wollt Ihr mich auf den Arm nehmen?“, fragte er mich jetzt.
Erneut schüttelte ich nur meinen Kopf, ohne ein Wort von mir zu geben. Reden tat ich nie wirklich gerne und tat es auch nur, wenn ich keine andere Wahl hatte oder so verdammt wütend war, dass ich nicht mehr an mich halten konnte.
„Ihr wollt mir also weismachen, Ihr wäret aus dem Gebiet der Oger hierher gekommen? Bei allem Respekt, meine Dame. Da lebend durchzukommen wäre für eine so junge Riesin, wie Ihr es seid, so gut wie unmöglich!“, sagte er.
Moment Mal! Riesin? War das jetzt eine Beleidigung, oder ein schlechter Scherz? „Willst du mich etwa Beleidigen? Oder was? Zu deiner Information“, begann ich: „Ich-bin-ein-Mensch!!“, fügte ich zornig hinzu, wobei ich jedes einzelne Wort mit besonderem Nachdruck aussprach. Dieser Kerl machte mich schier rasend! Nun blickte er mich musternd an und schüttelte dann den Kopf.
„Menschen gibt es in Leria nicht, es gibt sie höchstens in der Legende von Meni, und Meni ist, wie ich Euch schon sagte, nur eine Legende.“
Verwundert blickte ich ihn an.
„Leria? Meni?“, mit diesen Begriffen konnte ich nichts anfangen.
Die Sache wurde immer verrückter. Hatte ich doch anfangs noch den festen Glauben, diese Welt sei nur aus meinen Träumen entstanden, so wandelte er sich jetzt dazu um, dass diese Welt schon viel früher entstanden sein musste, vielleicht sogar zeitgleich mit der Entstehung der Welt, aus der ich kam.
Nun blickte er mich mit verschränkten Armen an.
„Ihr wisst wirklich gar nichts?“, fragte er mich mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Verwirrung.
„Nein, sonst wüsste ich auch, wie ich zurückkäme“, antwortete ich schlicht. „Meni …“, begann er vor sich hinzumurmeln.
Eine lange Zeit war es still, in der er in seine Gedanken vertieft zu sein schien. Misstrauisch beäugte ich ihn, auch wenn er kein Mensch war, so war er doch ein Schurke, und so jemandem konnte man nicht ohne weiteres trauen.
Nach einer Weile zog er, immer noch in Gedanken, etwas aus seiner Tasche und beäugte es, während er etwas vor sich her murmelte.
„Meni? Kann das sein?“, konnte ich heraus hören.
Mein Blick fiel nun auf den Gegenstand, den er in der Hand hielt, es war ein juwelenbesetzter Anhänger. Es war ein runder goldener Anhänger, an dessen äußerem Rand Malachiten eingefasst waren, die einen, einem Auge ähnlich sehenden, Smaragden einschlossen, der sich in der Mitte des Anhängers befand. Das musste das Auge sein, fuhr es mir unwillkürlich durch den Kopf. Kein Zweifel. Es sah unheimlich wertvoll aus, kein Wunder, dass jemand es stehlen würde. Allerdings schien es auch ein sehr religiöser Gegenstand zu sein, den man nicht so ohne weiteres stehlen durfte. Das war allerdings etwas, das man demjenigen, der es gestohlen hatte, nicht so einfach an den Kopf werfen konnte, besonders nicht, wenn er ein Schwert mit sich trug.
Mittlerweile schien er mit seinen Gedankengängen fertig zu sein, denn er hatte nun einen entschlossenen Blick und drehte sich zu mir um.
„Gut …“, begann er.
„Ich habe mich entschlossen, Euch zu helfen“, erklärte er mit einem Lächeln, das ich nicht richtig einordnen konnte. Irgendetwas zwischen selbstgefällig, berechnend und freundlich. Alles in allem kein sehr vertrauenswürdiger Gesichtsausdruck. „Mein Auftraggeber …“, begann er von neuem.
Aha, auch er hatte also Hintermänner. Allmählich begann ich mich zu fragen, in welches Netz von Verbrechen ich da bloß rein gerutscht war.
„... weiß bestimmt, wie Ihr wieder zurück gelangen könnt. Er interessiert sich sehr für die andere Welt und weiß vielleicht einen Weg“, sagte er freundlich zu mir. Augenblick. Ich hatte mit keinem Wort erwähnt, dass ich aus einer anderen Welt kam.
„Woher weißt du, woher ich komme?“, fragte ich ihn verblüfft.
„Ich sagte doch bereits, dass es Menschen nur in der Legende von Meni gibt. Meni, so nennen wir die andere Welt. Wir befinden uns zur Zeit in Leria“, sagte er.
Also hieß diese Welt Leria.
„Aber, wie lautet die Legende von Meni?“, wollte ich wissen.
Er zuckte mit den Schultern.
„So genau weiß ich das selbst nicht. Nur dass es die Welt der Menschen ist, die vor Urzeiten von der Unseren getrennt wurde. Warum das geschah weiß ich nicht. Da solltet Ihr Degoreb, meinen Auftraggeber, fragen. Wie gesagt, er weiß so gut wie alles über die Meni-Legende“, war seine Antwort.
Ich war mir nicht sicher, ob ich ihm vertrauen konnte, vielmehr war ich mir sicher, dass ich es nicht konnte. Aber im Anbetracht meiner Situation hatte ich keine andere Wahl, jetzt, wo ich wusste, dass es hier sogar Oger gab. Ich war mir sicher, wenn es so etwas wie Oger gab, musste es hier auch noch andere finstere Kreaturen, wie Vampire, Orks oder Albe geben, und denen wollte ich nicht mal bei Tageslicht begegnen, so viel war sicher. Da ich aber weder wusste, wie man ein Schwert benutzte, noch eines besaß, musste ich mir wohl oder übel eingestehen, dass ich mit diesem Schurken zusammen definitiv sicherer fahren würde als ohne ihn.
Also zog ich es vor, mich brav für sein großzügiges Angebot zu bedanken und sah ihm dabei zu, wie er eine Karte aus seiner Tasche, einer ledernen Umhängetasche, deren Verschluss aus den Hauern irgendeines Tieres zu bestehen schien, hervorzog. Er bedeutete mir, mich hinzusetzen, und tat dies dann auch selbst, mir direkt gegenüber. Dort breitete er die Karte zwischen uns beiden aus, um mir unseren weiteren Weg zu erläutern.
„Wir befinden uns zur Zeit hier“, sagte er, während er auf eine Art Waldgebiet auf der Karte zeigte.
Auf der Karte konnte ich auch die Ruinen der Riesen erkennen, in denen wir gewesen waren. Im Osten der Ruinen schien ein Fluss zu verlaufen, der aus einem Gebirge zu kommen schien. Sein Finger wanderte zu diesem Fluss.
„Das ist der Zuhala-Fluss“. Er fuhr den Fluss mit dem Zeigefinger entlang, bis er zu einer Art Haus kam.
„Das ist der Gasthof zum summenden Keiler“, sagte er. „Bis dahin werden wir fünf Tagesmärsche benötigen. Dort werden wir dann erst einmal Rast machen, und danach machen wir uns weiter immer dem Laufe des Flusses entlang, bis er eine Biegung in die Larus-Ebene macht. Von dort aus gehen wir südlich, bis wir an dieses Anwesen gelangen“. Während er sprach, war er den Weg auf der Karte mit dem Finger gefolgt bis zu einer Art Haus, das aussah, als ob er es selber notdürftig in die Karte gekritzelt hätte.
„Dort lebt Degoreb“, fügte er hinzu. „Bis dorthin werden wir vom Gasthof aus genau zehn Tagesmärsche benötigen“, sagte er und blickte nun von der Karte zu mir auf. „Habt Ihr das verstanden?“, fragte er mich.
Ich nickte nur.
Für mich bedeutete es alles in allem, dass es grausam werden würde. Ich konnte schon Klassenfahrten nicht ausstehen, eine Woche zusammen mit einem Haufen Idioten, die ich nicht ausstehen konnte. Allerdings war diese Größe der Verachtung in einem solchen Maße, dass ich sie einfach nur ignorierte und hoffte, sie würden das gleiche tun. Jetzt, leider, musste ich fast einen ganzen Monat mit einem Typen verbringen, den ich so sehr verachtete, dass ich ihn am liebsten im Schlaf erdrosseln wollte, zumindest, wenn ich ein Mensch wäre, der zu so was Abscheulichem in der Lage wäre.
„Ihr redet wohl nicht viel“, sagte er nun.
Das konnte ihm doch völlig egal sein!
„Nein!“, sagte ich barsch.
Das musste ihm genügen.
Was es scheinbar auch tat, er zuckte nur die Schultern, rollte seine Karte zusammen und verstaute sie wieder in seiner Tasche.
„Beeilt Euch! Ihr wisst es schon, ich warte nur ungern“, sagte er, stand auf und machte sich auf den Weg.
Das konnte heiter werden, so ging es mir durch meinen Kopf, als ich hastig aufstand und hinter ihm herlief.
„Dürfte ich wenigstens erfahren, wie du heißt?“, fragte ich zornig.
Er blickte mich über die Schulter hinweg an.
„Mein Name ist Tobias und der Eure?“, fragte er.
„Ich heiße Sabrina.“

Eine ganze Weile liefen wir durch das Waldgebiet, es war schon dunkel geworden und ich musste acht geben, dass ich nicht über die Wurzeln stolperte, die ich in der Dunkelheit kaum mehr wahrnehmen konnte. Dies war leider nicht von Erfolg gekrönt, sodass ich regelmäßig stürzte. Tobias sah es selbstverständlich weder als seine Pflicht an mir aufzuhelfen, noch darauf zu warten, bis ich aufgestanden war, sodass ich Mühe hatte, ihm zu folgen.
„Idiot“, murmelte ich, als ich abermals gestürzt war und sah, dass er schon einige Meter weitergelaufen war.
Als ich aufgestanden war und weitergehen wollte, spürte ich auf einmal etwas Nasses und Glitschiges an meiner Wade, ich ignorierte dies, im Wald konnte man öfter in irgendetwas Seltsames treten, aber das war Natur und das störte mich nie sonderlich. Doch nun kam ich nicht mehr voran, ich musste an diesem glitschigen Etwas hängen geblieben sein. Also bückte ich mich um mich von ihm loszumachen, aber so einfach war das nicht. Als ich erkannte, was es war, entfuhr mir ein Schrei. Eine Hand! Eine Hand kam aus dem Boden und hatte mich gepackt! Ich konnte meine Gedanken noch gar nicht richtig sammeln, als das Etwas, das mich gepackt hatte, aus dem Boden hervorkam und mich am Bein nach oben zog.
„Tobias!“, rief ich.
Doch er konnte mir nicht helfen, ich konnte ihn nämlich sehen ,umstellt von zehn weiteren dieser Kreaturen, die sich bei genauem hinsehen als Tote erkennen ließen. Untote um genau zu sein. Ich musste also versuchen, mich selbst zu befreien, oder wenigstens so lange am Leben zu bleiben, bis Tobias mit denen, die ihn umstellt hatten, fertig geworden war. Es war erstaunlich, wie geübt er im Umgang mit dem Schwert zu sein schien, das musste er mir unbedingt beibringen. Ansonsten würden sich solche Situationen viel zu oft wiederholen, und das wollte
ich ganz sicher nicht.
Mit meinem freien Bein trat ich dem Untoten, der mich immer noch am Bein gepackt hielt, mit voller Wucht in sein Gesicht. Mein Tritt schien gewirkt zu haben, denn er ließ mich fallen. Leider kam ich ziemlich schmerzhaft auf dem Boden auf, hatte mir aber zum Glück nur eine Abschürfung in der Handinnenfläche geholt. Aber, egal. Blut ist Blut, und es brannte fürchterlich. Zu allem Überfluss schien sich mein Angreifer wieder gefangen zu haben und war jetzt verdammt wütend, ich hatte ihm scheinbar ein Auge herausgetreten, zumindest redete ich mir das ein, er war tot, wahrscheinlicher war, dass es schon von vornherein nicht existiert hatte.
Doch das alles sollte mich jetzt weniger interessieren, konnte ich doch bei meiner geringen, oder vielmehr überhaupt nicht existierenden, Kampferfahrung, schon von Glück reden, dass ich es geschafft hatte, von diesem Ding loszukommen. Jetzt kam es mit schlurfenden Schritten auf mich zu, und ich wurde wieder panisch.
Ein rascher Blick über die Schulter zu Tobias sagte mir, dass er es jetzt mit zehn weiteren Untoten zu tun bekam und meine Rettung durch ihn daher in noch weitere Ferne gerückt zu sein schien. Ohne lange nachzudenken, sah ich mich nach etwas um, das mir hätte nützlich sein können. Ein heruntergefallener Ast, oder ein Stein, irgendetwas hartes, das ich als Waffe benutzen konnte, und ich fand auch etwas.
Zugegeben, der Ast, den ich fand, war viel mehr ein Stöckchen, aber hart war er zumindest. Also machte ich mich bereit und wartete, bis der Untote nahe genug gekommen wäre, um ihm einen schmerzhaften Hieb zu verpassen, auch wenn ich nicht glaubte, dass ein Toter irgendetwas hätte fühlen können. Ich glaubte auch zu wissen, dass mein Tritt ihn vorher eher überrascht hatte, als dass er ihm wehgetan haben könnte. Nun geschah es allerdings so, dass ich überhaupt nicht dazu kam, ihn zu schlagen, denn er ging glühend vor meinen Augen in Flammen auf und brannte nieder, bis nur ein kleiner Haufen Asche übrig war.
Die anderen Untoten, die Tobias angegriffen hatten, ließen von ihm ab und blickten verschreckt in meine Richtung, auch Tobias blickte mich verwirrt an. Dachten die etwa, ich wäre das gewesen? Wie blöd können Leute sein? Als nächstes versuchten sie, panisch zu fliehen, kamen aber nicht weit, denn vom Himmel herab kamen weitere Flammen hinunter geschossen, direkt auf die Untoten, von denen danach auch nur noch ein Haufen Asche übrig war.
Jetzt bemerkte ich auch, was es war, das uns gerettet hatte. Ein weißer Drache, ein recht junger weißer Drache, um genau zu sein.
Tobias baute sich vor mir auf und erhob abermals sein Schwert. Er schien zu befürchten, dass der Drache als nächstes auf uns losging. Doch ich schob ihn beiseite und lief auf den Drachen zu.
„Seid Ihr des Wahnsinns? Das ist ein Drache!“, rief er ganz so, als würde er glauben, das soeben Geschehene habe mich um den Verstand gebracht.
Ich ignorierte ihn und fiel dem Drachen um den Hals, hatte ich sie doch sofort wiedererkannt.
„Azur!“, sagte ich voller Dankbarkeit.
„Ich hatte mir Sorgen um dich gemacht“, sagte sie. „Und zu Recht, wie es scheint. Ich bin wohl gerade noch rechtzeitig gekommen“, sagte sie in ihrer wunderschönen und melodiösen Stimme.
„Du machst dir Sorgen um mich?“, fragte ich verdutzt zurück.
Azur nickte.
„Du bist eine Freundin von Gard und Sareb, also bist du auch meine Freundin“, antwortete sie mir.
Tobias, der nach anfänglichem Zögern nun auch dazu gekommen war, schaute abwechselnd zwischen Azur und mir hin und her.
„Ihr …, ihr versteht, was er sagt?!“, fragte er ungläubig.
„Ja“, sagte ich in einem gleichgültigen Ton. „Die Riesen meinten, ich sei ein Flüsterer oder so etwas“, fügte ich beiläufig hinzu.
„Riesen?!“, fragte er in einem lautstarken und verdatterten Tonfall. „Ihr seid mit Riesen befreundet?“, scheinbar konnte er dies kaum fassen.
„Ja, das bin ich“, sagte ich schlicht. Er schien etwas Angst bekommen zu haben. Sehr gut. Das könnte ihn zumindest vorerst davon abhalten, irgendwelche krummen Dinger zu planen.
„Und zusätzlich könnt ihr mit Tieren sprechen?“, fragte er.
Mit Tieren sprechen, das war es also, was es bedeutete, ein Flüsterer zu sein. Das würde zumindest erklären, warum es mir all die Jahre so vorkam, als ob ich meine Sue verstand. Ich verstand sie also wirklich!
„Scheint so“, antwortete ich ihm schlicht.
Mehr konnte ich nicht sagen, er war hier schließlich nicht der Einzige, für den das alles neu war. Sein entgeisterter Blick ruhte auf mir und verwandelte sich dann rasch in einen ziemlich neutralen und nichtssagend Blick.
„Wir sollten erst am Morgen weiterreisen. Suchen wir uns einen sicheren Platz für die Nacht“, sagte er nun, drehte sich um und bedeutete mir, zu folgen.
„Ist das ein Freund von dir? Er scheint mir nicht sonderlich vertrauenswürdig zu sein“, sagte Azur, während sie Tobias musterte.
„Das denke ich auch, aber im Augenblick habe ich keine andere Wahl. Ich bin nicht so stark, dass ich alleine klar kommen würde“, sagte ich und begann, ihm zu folgen, mit Azur im Schlepptau.
„Gegen die Untoten hat er aber nicht viel geholfen. Zugegeben, er hat es einigen von denen ganz schön gezeigt, das habe ich gesehen, aber, es war auch nicht so schnell zu schaffen, die zu besiegen, die ihn angriffen, damit er sich dann auch noch um den kümmern konnte, der sich dich vornehmen wollte“, sinnierte sie.
„Soll das heißen, ich bin eine Last?“, fragte ich beleidigt.
„Nein“, sagte sie entschuldigend. „Es ist ja auch nicht deine Schuld. In Meni gibt es schließlich keine solchen Wesen, gegen die man sich behaupten müsste. Es ist also ganz verständlich, dass du das nicht kannst“, sagte sie.
Verblüfft blieb ich stehen und blickte sie an.
„Woher weißt du, dass ich aus Meni komme?“, fragte ich sie.
Sie blickte mich an, war das etwa ein Lächeln? Ich war mir sicher, dass es eines war, auch wenn das bei einem Drachen mit Sicherheit alles andere als leicht erkennbar war.
„Gard und Sareb sagten doch, du seist ein Mensch. Menschen gibt es nur in Meni, meine Eltern haben mir davon erzählt. Wir Drachen können, sobald wir das entsprechende Alter erreicht haben, in einer Astralform nach Meni reisen. Ich bin dafür noch zu jung, aber ich habe viele Geschichten von Meni gehört. Also weiß ich, dass es außer Menschen und Tieren keine anderen Wesen dort gibt.“ Jetzt, wo sie dies sagte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
„Die Wolken!“, sagte ich.
Die Wolken waren mir an einigen Tagen wie Drachen vorgekommen. Also waren es tatsächlich nicht immer nur einfache Wolken gewesen.
„Du konntest sie also sehen?“, fragte Azur ehrfürchtig.
Ich nickte.
„Das ist unglaublich! Wir dachten, wenn wir uns zwischen den Wolken versteckten, würde uns niemand erkennen können“, sie blickte mich bewundernd an. „Du musst ganz besondere magische Fähigkeiten haben!“, stellte sie fest.
„Scheint so, sonst wäre ich bestimmt nicht hier gelandet, oder könnte dich verstehen“, sagte ich.
Weiter ging unsere Unterhaltung an diesem Tag leider nicht, denn ein ziemlich wütender Tobias tauchte auf und beendete sie.
„Wo bleibt Ihr denn?!“, fragte er zornig.
Ich folgte mürrisch dieser unfreundlichen Aufforderung, ihm zu folgen.
An der Stelle, zu der er uns führte, brannte bereits ein Lagerfeuer, und an zwei Stellen lagen Leinentücher am Boden. Er deutete auf eines der beiden. „Legt Euch schlafen“, sagte er in seinem unfreundlichen Befehlston, „wir müssen früh weiterziehen.“
„Was ist dein Problem?“, fragte ich zornig.
Ich hatte von seiner Unfreundlichkeit genug. Die ganze Nacht hindurch scheuchte er mich durch die Gegend!
„Warum, verdammt noch mal, hast du es so eilig?!“, fragte ich ihn voller Zorn.
„Wegen meinem Bein! Falls Ihr das vergessen habt!“, sagte er nun, noch viel zorniger als ich es war und deutete dabei auf seine noch immer in Leinen eingewickelte Wade.
Mittlerweile war der Stoff vollends in Blut getränkt. Ich brachte keinen Ton heraus und blickte ihn nur entschuldigend an. Es war schier unglaublich, wie er es bei dieser Verletzung geschafft hatte, die Untoten in Schach zu halten.
Ich verstand auch nicht, warum er mich gerettet hatte, anstatt sich schleunigst auf den Weg zu machen, damit er jemanden finden konnte, der seine Wunden heilte.
Es ergab einfach keinen Sinn für mich. Endlich hatte ich meine Stimme wieder
gefunden.
„Es tut mir leid. Kann ich dir nicht irgendwie helfen?“, fragte ich entschuldigend.
Ich begann, seine Unfreundlichkeit zu verstehen, er musste fürchterliche Schmerzen haben, und meiner Meinung nach war es eine unglaubliche Leistung von ihm, dennoch eine derartige Ruhe zu bewahren.
„Nein“, sagte er, nun etwas entspannter. „Aber es ist unglaublich, dass Ihr auch freundlich sein könnt, meine Dame“, sagte er grinsend.
Da macht man sich gerade wieder Hoffnungen, doch noch mit ihm klar zu kommen, und was tut er? Er macht sie wieder zunichte.
Azur, die unserer Unterhaltung die ganze Zeit gelauscht hatte, ging auf Tobias zu, der sich gerade auf sein Leinentuch gesetzt hatte, scheinbar waren die Schmerzen zu groß, als das er noch weiter hätte stehen können. Nun, als Azur auf ihn zukam, zuckte er kurz zusammen und griff nach seinem Schwert, bereit, einen Hieb auszuführen, sollte sie es auch nur wagen, ihn anzugreifen.
Selbst für mich, die ich keine Zweifel daran hatte, dass Azur niemals grundlos irgendjemandem ein Haar hätte krümmen können, war ihr Verhalten merkwürdig.
Doch alles, was sie tat, war, ihren Kopf an die eingewickelte Wade von Tobias zu legen, nur einen kurzen Augenblick lang, dann kehrte sie zu mir zurück. Tobias blickte verdattert auf seine Wade und dann riss er denn Stoff von ihr herunter, gerade noch rechtzeitig, sodass wir noch sehen konnten, wie sich in wenigen Sekunden seine Wunde wie von Zauberhand schloss. Verdattert blickte er auf zu Azur.
„Danke“, sagte er atemlos. Genau wie ich schien er das Ganze noch nicht ganz begreifen zu können.
„Fast wie ein Phönix!“, sagte ich ehrfürchtig.
Ich erinnerte mich an das, was ich über den Phönix gelesen hatte, und dass eine einzige seiner Tränen schon ausreichte, um alle Arten von Verletzungen zu heilen.
„Das ist eine besondere Fähigkeit von meinem Volk“, sagte Azur voller Stolz. „Aber ihr schaut beide müde aus. Ihr solltet wirklich schlafen gehen. Keine Sorge, ich werde darauf achten, dass euch keine Toten mehr angreifen. Ihr könnt also beruhigt schlafen.“ Ich berichtete Tobias von Azurs Vorschlag.
Dieser blickte erst einmal weiterhin misstrauisch in ihre Richtung, schien dann aber einzusehen, dass man ihr vertrauen konnte. Was, wie ich fand, das Mindeste war, das er tun konnte, nach dem, was sie für ihn getan hatte.
Schlussendlich legte er sich auf sein Tuch und schlief auch schnell ein. Die Verletzung musste ihn unheimlich entkräftet haben, auch wenn sein Stolz es ihm zu verbieten schien, dies öffentlich zur Schau zu stellen.
Wie Jungs eben so sind.
Auch ich entschloss mich jetzt dazu, mich schlafen zu legen. Heute waren so viele unglaubliche Dinge geschehen, dass ich das erste Mal in meinem Leben richtig Müde geworden war und schon kurz, nachdem ich mich hingelegt hatte, in einen tiefen und traumlosen Schlaf glitt.